Ein digitaler Zwilling
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Letzten Herbst hat die Fachhochschule Nordwestschweiz ihren Campus Muttenz eingeweiht. Jetzt erhält das Gebäude ein Abbild – ein virtuelles. Mit dem Projekt «Digital Twin CMU» zeigt das Institut Digitales Bauen der FHNW praxisorientiert auf, wie das dynamische und nachhaltige Bauen der Zukunft aussehen kann.
Das Projekt «Digital Twin CMU» setzt den Hebel an einer für den Schweizer Lehr- und Forschungsbereich gänzlich neuen Stelle an. (Bild: Wissam Wahbeh, Institut Digitales Bauen FHNW)
Dieser Artikel ist im Rahmen der NZZaS-Verlagsbeilage «Zukunft Bauen» erschienen. Inhalt realisiert durch NZZ Content Solutions in Kooperation mit Brand Relations. Hier geht es zu den NZZ-Richtlinien für Branded Content.
In Sachen Digitalisierung hinkt die Baubranche anderen Industriezweigen zum Teil beträchtlich hinterher. Das zeigt sich allein schon an der Tatsache, dass viele Gebäude in der Schweiz nach wie vor ohne Einsatz von Building Information Modelling (BIM) erstellt werden, sondern konventionell, also anhand zweidimensionaler Pläne. Dabei bieten die neue Methode und die technologischen Errungenschaften sowohl in der Planung als auch in der Erstellung und im späteren Betrieb grosse Vorteile. «Daten und digitale Modelle sind unerlässlich, gerade wenn es um die nachhaltige Nutzung von Bauwerken geht», betont Professor Manfred Huber, Leiter des Instituts Digitales Bauen an der Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).
Bewusste Co-Kreation
Das von seinem Institut initiierte und von der Stiftung FHNW geförderte Projekt «Digital Twin CMU» setzt den Hebel an einer für den Schweizer Lehr- und Forschungsbereich gänzlich neuen Stelle an: dem Erstellen, Betreiben und Unterhalten virtueller Abbilder von real existierenden Gebäuden, sogenannter digitaler Zwillinge. Und was bietet sich da Besseres an, als gleich den eigenen, im Herbst fertiggestellten Campus Muttenz (CMU) mit einzubeziehen? «Der CMU ist zwar brandneu, wurde aber aufgrund seiner langen Entstehungsgeschichte noch unter Ausschluss der BIM-Methode geplant und gebaut, das ist das Eine», führt Huber aus.
Das Andere sei der Branchenmix, der dem Hause innewohne – unter anderem Architektur, Bauingenieurwesen, Geomatik oder Energie- und Umwelttechnik – und eine geradezu perfekte Plattform liefere für interdisziplinäres Lehren, Forschen und Gestalten. «Jede und jeder Studierende liefert die von ihr oder ihm im jeweiligen Fach erarbeiteten Resultate, das Projekt aber ist als solches disziplinenübergreifend», sagt Huber, «wir sprechen in diesem Zusammenhang bewusst von Co-Kreationen.»
Das Projekt «Digital Twin CMU» hat in den letzten Monaten Fahrt aufgenommen. Aktuell sind Studierende aus dem Bereich Geomatik damit beschäftigt, sämtliche Daten zum Campus zu erfassen. Als nächstes an der Reihe sind dann die angehenden Energie- und Umweltingenieure, die das reale Bauwerk mit dem virtuellen Replikat verknüpfen sollen. Dies geschieht in erster Linie mittels Sensoren, zur Anwendung gelangen gängige technologische Bausteine, die zu einer neuartigen Plattform aufgebaut werden. Ziel ist es, den bestehenden Campus Schritt für Schritt in einem digitalen Zwilling abzubilden. Dies wie erwähnt unter Einbezug der verschiedenen Fachbereiche und im Rahmen bestehender Studiengänge.
«Nicht einfach eine dreidimensionale Abbildung der Realität – eine Abstraktion der Wirklichkeit, die den Faktor Zeit berücksichtigt.»
Laut Huber ist zu einem späteren Zeitpunkt die Lancierung von spezifischen Digital-Twin-Weiterbildungsmodulen geplant. «Der eigene Campus ermöglicht uns letztlich eine intuitive, praxis- und anwendungsorientierte Lernumgebung, von der angehende Berufskräfte genauso profitieren können wie gestandene.» Der digitale Zwilling wird aber nicht nur für die Lehre genutzt, sondern dient auch zur Entwicklung von Lösungen mit Praxispartnern im Kontext der angewandten Forschung.
Von der Idee bis zum Rückbau
Doch was genau ist eigentlich ein Digital Twin, ein digitaler Zwilling? Ursprünglich entstammt das Konzept dem Maschinen, vorab dem Flugzeugbau. Dort hilft der digitale Zwilling, mögliche Problemstellungen frühzeitig zu erkennen, damit ihnen in der Realität proaktiv begegnet werden kann. Der Begriff Digital Twin geistert aber auch in der Baubranche und im Architekturwesen schon seit längerer Zeit herum. Und weckt, so Manfred Huber, mitunter falsche Vorstellungen und Erwartungen. «Entgegen der landläufigen Meinung nämlich ist ein digitaler Zwilling nicht einfach eine dreidimensionale Abbildung der Realität – er ist eine Abstraktion der Wirklichkeit, bei der der Faktor Zeit eine ganz zentrale Rolle spielt.»
Definition
Ein digitaler Zwilling (Digital Twin) im Bau- und Immobilienwesen ist ein digitales Bauwerksmodell, das als digitales Replikat die Struktur und das Verhaltens eines Bauwerks (Real Twin) mit interaktiven Verbindungen zum physischen Zwilling aufzeigt. Diese Verbindungen übertragen Informationen wie Zustands-, Nutzungs- oder Analysedaten sowie Steuerungsbefehle. Je nach Detaillierung und Grad der Automatisierung sowie der Art der Verbindungen und Informationen kann ein digitaler Zwilling unter-schiedliche Ausprägungen erreichen. Er bildet damit bauliche sowie betriebliche Zustände eines realen Bauwerks über die Zeit ab. Er kann ein bestehen-des oder in der Realisierung befindliches Bauwerk abbilden.
Ein Digital Twin berücksichtigt denn auch die Fakten und Daten bereits von der ersten Idee über die Planung und den Bau bis hin zum eigentlichen Unterhalt und dem späteren Rückbau. Eine äusserst dynamische, lebendige Angelegenheit also. Die über Sensoren gesammelten Informationen eines Gebäudes und das BIM-Modell werden zu einer einzigen Datenbank zusammengebracht – und dies in Echtzeit, womit der digitale Zwilling stets auf dem aktuellen Stand ist, was, wo, weshalb bei seinem realen Geschwister gerade stattfindet.
Alles vollautomatisch
Am augenfälligsten lässt sich der Nutzen der interaktiven Verbindung von physischem und digitalem Bauwerk wohl in Bezug auf den Bereich Unterhalt schildern: Wenn beispielsweise irgendwo in einem Gebäude ein Lüftungsaggregat ins Stottern gerät, so meldet der eingebrachte Sensor diesen Zwischenfall schneller seinem digitalen Abbild, als ein Mensch die Panne bemerken würde. Genauso sei es möglich, die Belegung von Studienräumen und Sitzungszimmern in Echtzeit zu koordinieren, erklärt Huber. «Jedwede Veränderung am und im Gebäude, sei es ein baulicher Eingriff oder auch nur der Transfer eines Beamers von A nach B, wird im digitalen Zwilling eins zu eins und in Echtzeit nachgeführt – vollautomatisch natürlich.»
Das Projekt «Digital Twin CMU» reklamiert für sich eine bestimmte Signalwirkung. Denn nach wie vor ist der Einsatz von digitalen Zwillingen in der Schweiz, anders als etwa in nordischen Ländern, eine absolute Ausnahme. Huber räumt den Neubauten, die unter Verwendung von Digital Twin geplant und betrieben werden, hierzulande aktuell einen Anteil von weniger als 1 Prozent ein – bis in 15 Jahren sollen es indes bereits 30 bis 40 Prozent sein.
«Wir wollen nicht nur unsere Studierenden zur Auseinandersetzung mit dieser neuen methodischen und technologischen Möglichkeit auffordern, sondern eben auch private Bauherren, Architekten und weitere Partner aus der Praxis.» Den grossen Vorteil vom Zusammengehen realer und digitaler Bauwerke sieht man am Institut Digitales Bauen der Fachhochschule Nordwestschweiz in zielgerichteten und optimierten Planungs- und Bauprozessen mit weniger Doppelspurigkeiten oder Leerläufen und im anschliessenden Unterhalt und Betrieb von Gebäuden. «Hier sind wir dank der digitalen Zwillinge sicherlich in der Lage, die Qualität zu steigern und die Kosten deutlich zu reduzieren», nennt Manfred Huber weitere Vorteile der Digitalisierung der Bauwirtschaft.
Institut Digitales Bauen
Das Institut Digitales Bauen der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) beschäftigt sich mit der Digitalisierung des Bau- und Immobilienwesens, die eine grundlegende Veränderung von Prozessen, Organisationsformen und Werkzeugen bewirkt. Damit spielt das Institut eine führende Rolle in der Vermittlung, Erforschung und Anwendung fortgeschrittener Methoden und Technologien der inter-disziplinären Zusammenarbeit in Planungs-, Bau- und Bewirtschaftungsprozessen über alle Anspruchsgruppen und sämtliche Phasen hinweg.
Die Aktivitäten des Instituts fokussieren sich auf die systematische und bewusste Integration der Methoden des digitalen Entwerfens, Bauens und Betreibens in die Bereiche Architektur, Bauingenieurwesen, Geomatik sowie Energie- und Umwelttechnik. Auf Bachelor- und Master-Stufe werden Wahl- und Pflichtfächer in den verschiedenen Studiengängen der Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik angeboten.
Im Bereich Weiterbildung ist das MAS Digitales Bauen hervorzuheben. Daneben wirkt das Institut in zahlreichen weiteren Weiterbildungsangeboten fachbezogen mit. Zudem entwickelt es eine rege angewandte Forschungstätigkeit, ist mit zahlreichen weiteren Fachhochschulen und Hochschulen wie zum Beispiel der Stanford University vernetzt und hat einen iRoom (Labor für Virtual Design and Construction). Das Institut Digitales Bauen gibt sein Wissen laufend auch an diversen Veranstaltungen und Tagungen weiter: www.fhnw.ch/idibau.